Das Thema Mobilität bewegt die Gesellschaft. Heute stehen mehr Fortbewegungsmöglichkeiten zur Verfügung als je zuvor: Die Menschen sind nicht nur zu Fuß unterwegs, sondern mit dem Fahrrad/ E-Bike/ Lastenrad mit (E-)Autos, mit Bus und Bahn. Diese Liste ließe sich noch beliebig fortsetzen. Mit Blick auf den Klimawandel wollen auch immer mehr Menschen ihre Wegstrecken nachhaltig und umweltbewusst absolvieren. Hinzu kommt die fortschreitende Digitalisierung, die weitere Chancen für Innovationen im Verkehrssektor bietet. Vor diesem Hintergrund haben wir uns mit Prof. Michael Ortgiese unterhalten. Er ist kommissarischer Institutsleiter des Instituts für Verkehrssystemtechnik des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt e.V. (DLR).
Redaktion: Prof. Ortgiese, wie sieht Ihre Wunschvorstellung von moderner und nachhaltiger Mobilität aus?
Ortgiese: Meine Wunschvorstellung deckt sich hier mit den Leitbildern, die aktuell in der Fachwelt diskutiert werden. Wir sollten für unsere Mobilität flexibel das Verkehrsmittel wählen, das die Umwelt und das Klima am wenigsten beeinträchtigt. Ich möchte aber jetzt zwei Dinge ergänzen: Einerseits sollten wir nicht nur die aktuellen Emissionen betrachten, sondern auch den kompletten Lebenszyklus eines Verkehrsmittels. So stellt sich beispielsweise bei der Elektromobilität die Frage, ob wir immer größere Reichweiten mit immer größeren Batterien realisieren müssen. Weiterhin sollten wir berücksichtigen, dass auch umweltfreundliche Fahrzeuge im motorisierten Verkehr insbesondere unsere Städte belasten. Neben dieser Flexibilität sollten wir uns also auch überlegen, ob jeder Weg notwendig ist.
Redaktion: Einerseits ist es durch das 49-Euro-Ticket für viele Menschen attraktiver geworden, auf Bus und Bahn umzusteigen. Andererseits kommt es immer wieder aufgrund von Personalmangel oder Krankheitsfällen zum Ausfall von Fahrten oder ganzen Verbindungen. Wie kann der ÖPNV mit dem motorisierten Individualverkehr besser mithalten oder ihm sogar ebenbürtig sein?
Ortgiese: Hier sprechen Sie einen wichtigen Punkt an. Das Deutschland-Ticket umfasst zwei wesentliche Komponenten. Einerseits macht es die Nutzung des ÖPNV leichter, weil es ohne Einschränkungen in ganz Deutschland im Nahverkehr gilt. Das zweite ist natürlich der Preis. Ich bin der Meinung, dass wir im Rahmen der Mobilitätswende die Attraktivität des ÖPNV als Ganzes stärken müssen. Hierzu zählt neben einem attraktiven Preis auch ein attraktives Angebot. Und die Angebote müssen sich wirtschaftlich tragen. Hierzu zählt auch, dass wir ausreichend Personal finden und dieses auch entsprechend bezahlen. Das Deutschland-Ticket kann ja nur ein Anfang sein, die Umgestaltung des Systems muss viel weiter reichen. Automatisierung kann hier beispielsweise einen Beitrag leisten.
Redaktion: Stichwort: Multimodalität – also die Möglichkeit nicht nur mit dem Bus von A nach B zu gelangen, sondern beispielsweise auch mit On-Demand-Verkehren, etc. Die Metropolregion GmbH hat im Juni einen Förderantrag über vier Mio. Euro beim Bundesministerium für Bildung und Forschung eingereicht. Damit soll die Mobilität durch ÖPNV und Individualverkehr besser miteinander verflochten werden und so auch das Klima schonen. Um die Gewohnheiten der Verkehrsteilnehmenden zu ändern, sollen auch Gamification- und Nudging-Ansätze genutzt werden. Welche Aufgabe hat das DLR im Antrag?
Ortgiese: Wir sind hier auf drei Ebenen tätig. Einerseits beteiligen wir uns an dem Aufbau einer Plattform, mit der die Verkehrsteilnehmer ein multimodales Angebot leicht und flexibel nutzen können. So sehr wir uns diese Flexibilität in der Verkehrsmittelwahl wünschen, wir dürfen nicht vergessen, dass mit dieser Flexibilität für die Nutzenden auch ein hohes Maß an Komplexität verbunden ist. Hier müssen wir durch geeignete digitale Angebote eine gute Unterstützung leisten. Neue Angebote sind aber nicht nur für die Nutzenden komplex, sondern auch für die Entscheidungsträger. Mit Simulationsmodellen wollen wir einen Beitrag leisten, dass die in der Metropolregion tätigen Akteure bei ihrer Entscheidungsfindung unterstützt werden. Dieses mündet in unserem dritten Beitrag, die Entwicklung von attraktiven Kooperationsmodellen in der Metropolregion.
Redaktion: Künstliche Intelligenz ist zurzeit ein großes Thema. Wie sieht da aktuell der Einsatz im Bereich Verkehr und Mobilität aus?
Ortgiese: Künstliche Intelligenz wird auch im Bereich von Verkehr und Mobilität in der Zukunft eine große Rolle spielen. Ich habe ja bereits erwähnt, dass umfassende multimodale Angebote mit einer gewissen Komplexität verbunden sind. Zum Glück werden wir in der Zukunft eine Vielzahl von Daten erhalten, die für die Optimierung des Gesamtsystems genutzt werden können. Für diese Optimierung bietet Künstliche Intelligenz viele Ansatzpunkte. An dieser Stelle ist mir mit Blick auf die aktuelle Diskussion aber auch wichtig zu betonen, dass Künstliche Intelligenz eine Vielzahl von Ausprägungen hat. Viele dieser Ausprägungen sind gut beherrschbar und führen nicht zu den Herausforderungen, die wir aktuell vor dem Hintergrund ChatGPT diskutieren.
Redaktion: Kommen wir zum Autonomen Fahren. 2018 gab es in Zusammenarbeit mit dem Wirtschaftsforschungsunternehmen Prognos eine Studie im Auftrag des ADAC e.V. Diese geht davon aus, dass sich automatisierte Autos erst ab 2030 anfangen im Straßenverkehr zu verbreiten. 2050 soll dann erst rund die Hälfte aller Fahrzeuge über Automatisierungsfunktionen verfügen. Demnach sollen diese aber erst einmal nur auf Autobahnen genutzt werden können und nicht auf Landstraßen. Woran liegt das und wie schätzen Sie den zeitlichen Fortschritt zum Ziel des Level 5 als selbst fahrendes Auto ein?
Ortgiese: Mit zeitlichen Prognosen möchte ich mich hier an dieser Stelle zurückhalten. Aktuell sehen wir noch eine Vielzahl von Problemen. Die Erfahrungen der Vergangenheit lehren uns aber auch, dass sich technische Fortschritte manchmal sprunghafter und schneller einstellen, als wir es ursprünglich gedacht hatten. Ich glaube, wir werden einen evolutionären Prozess erleben, indem schrittweise neue Technologien eingeführt werden. Die Autobahn spielt hier eine Rolle, aber vielleicht auch gewisse spezielle gesicherte Streckenabschnitte im Stadtverkehr. Wir sehen aktuell in den USA , dass technologische Fortschritte erzielt werden. Für den Standort Deutschland wird es wichtig sein, dass wir mit der technologischen Entwicklung mithalten können. Hier sind wir in Teilen ganz gut, an anderen Stellen haben wir sicherlich Aufholbedarf. Hier sind erhebliche Anstrengungen erforderlich, die nicht nur rein technischer Natur sind, sondern auch kultureller. Wir brauchen mehr Mut zur Einführung von Innovationen und die beteiligten Akteure müssen in neuen Konstellationen zusammenarbeiten. Bei der Realisierung dieser neuen Kooperationsmodelle sehe ich eine der größten Herausforderungen.
Redaktion: Wenn wir uns anschauen, dass in Deutschland das Thema Tempolimit teils polarisiert und wir auf der anderen Seite davon reden, künftig autonom zu fahren: Inwiefern können Sie sich vorstellen, dass die Menschen sich auch zurücknehmen können, was eigenständiges Fahren anbelangt und das Auto einfach mal machen lassen?
Ortgiese: Ich glaube, das wird schon klappen. Wir nutzen noch heute den Zug, den Bus oder das Flugzeug und lassen uns fahren.
Redaktion: Sie betreiben ja auch das Testfeld Niedersachen. Das ist zwischen Hannover, Hildesheim, Braunschweig und Wolfsburg auf 280 Streckenkilometern angesiedelt. Welche Tests haben Sie dort bislang durchgeführt und welche sind geplant?
Ortgiese: Das Testfeld Niedersachsen ist jetzt seit etwa zwei Jahren in Betrieb. Neben dem Abschnitt auf der Autobahn, den Sie erwähnten, gehört auch die bereits seit mehreren Jahren im Innenstadtbereich von Braunschweig betriebene Referenzstrecke zum Gesamtsystem. Im Testfeld auf der Autobahn und in der Stadt können wir die Entwicklung von Sensorsystemen für das automatisierte Fahren unterstützen, indem wir den Verkehrsfluss hochgenau beschreiben. Das Testfeld ermöglicht darüber hinaus eine umfassende Kommunikation und Interaktion zwischen Fahrzeugen und der Infrastruktur. Diese ist aus unserer Sicht wichtig, um möglichst schnell automatisierte Funktionen anbieten zu können. Partner aus der Metropolregion nutzen das Testfeld für ihre Technologieentwicklungen in diesen beiden Bereichen. Der Name Testfeld ist im Übrigen ein wenig irreführend. Es handelt sich hier um eine große Anlage des DLR, die langfristig für Entwicklungen zur Verfügung steht. Wir können den Unternehmen in der Metropolregion somit eine langfristige Entwicklungspartnerschaft anbieten. Das unterscheidet sich von vielen anderen Testfeldern, die aktuell in Deutschland und in Europa entstehen. Diese haben zumeist einen Projektcharakter und können diese Langfristigkeit nicht gewährleisten.
Das Testfeld Niedersachsen bei Nacht (Foto: DLR)
Redaktion: Wie ist der Status quo und wie soll es weiter gehen? Wie können Partner*innen der Mobilität aus der Metropolregion vom Testfeld profitieren, um es voranzubringen?
Ortgiese: In der Metropolregion haben wir ein exzellentes Ökosystemen aus Industrie und Forschung, dass gemeinsam an der Gestaltung neuer, automatisierter Mobilitätslösungen arbeiten kann. Das Testfeld Niedersachen ist hier ein wichtiger Baustein. Hinzu kommen die Städte, die Landkreise und das Land. Diese spielen insgesamt eine wichtige Rolle beim Betrieb des Gesamtsystems. Ich erwähnte zuvor, dass neben der Technologieentwicklung auch neue Kooperationsmodelle erforderlich sind. Die technologische Kompetenz ist in der Metropolregion ohne Zweifel vorhanden. Wenn wir es jetzt noch schaffen, tragfähige Kooperationsmodelle zu entwickeln und so zu zeigen, wie diese Technologie erfolgreich betrieben werden kann, dann besitzen wir hier ohne Zweifel ein Alleinstellungsmerkmal. Ich glaube, das können wir gemeinsam schaffen. Hier wollen wir mit unserem Testfeld einen Beitrag leisten.
Redaktion: Was muss passieren, damit die Verkehrswende in absehbarer Zeit nachhaltig gelingt?
Ortgiese: Mut und Veränderungswille von allen Seiten. Wir müssen ein System umgestalten, dass so in den letzten 60 Jahren, oder noch länger, gewachsen ist. Hierfür haben wir aber deutlich weniger Zeit. Es wird nicht einfach werden und sicherlich an der ein oder anderen Stelle auch ein wenig unbequem. Das muss uns allen bewusst sein.
Redaktion: Vielen Dank für das Gespräch, Prof. Ortgiese.