Digitalisierung und Kompetenzen in der Pflege - die HealthTalk Expert*innen im Interview

Veröffentlicht: 29. April 2021

Am 23. April fand unser 10. HealthTalk statt, Thema des Monats: Digitalisierung und Kompetenzen in der Pflege. Der besondere Rahmen: Die internationale Online-Konferenz der Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften. Die Fakultät Gesundheitswissenschaften lud verschiedene Fachleute aus dem Gesundheitswesen ein, um zum Thema Digitalisierung heute und in Zukunft, Kompetenzen und Professionalisierung im Pflegeberuf zu referieren und diskutieren.

Expert*innenrunde des HealthTalks

Nach einem Grußwort von Andreas Westerfellhaus (Pflegebevollmächtigter Bundesregierung) und Iris Bothe (Stadträtin für Jugend, Bildung und Integration) führten Frau Prof. Martina Hasseler und  Frau Prof. Sandra Tschupke in die Konferenz ein. Eine zentrale Forderung: Digitale Kompetenzen sind notwendig, damit neue Technologien angemessen und zum Wohle der Patient*innen und Pflegebedürftigen eingesetzt werden können – hier geht es um Wissen über Funktionsweisen der neuen Technologien, ethische Herausforderungen oder zu verstehen, wie Künstliche Intelligenz in der Patientenversorgung eingesetzt wird. Melanie Philip, Geschäftsführerin der Pflegepioniere, sprach über Chancen und Herausforderungen der Telepflege durch Pflegefachkräfte. Die Pflege müsse mitgenommen werden. Wichtig sei hier der Aufbau der Prozessinfrastruktur, bei dem die Anwender*innen nicht vergessen werden dürfen. Weiter gab es einen Einblick in die Forschung der britischen Professorin Paula Procter zum Thema „Nursing and Robots“. Artificial Intelligence und Nursing ist das Spezialgebiet der finnischen Forscherin Sanna Sanantera. Dr. Jonas Schwartze vom PLRI berichtete über sensorerweiterte Wohnumgebungen als diagnostische Räume. Damit ist das PLRI auch Teil des ISAN-Projektes, bei dem es um eine digitale Unfallversorgung und Rettungskette geht. Statements von Seiten der Krankenkassen machten weiter deutlich, dass eine Pflege nur dann verändert werden könne, wenn auch die Rechtsgrundlage entsprechend geändert werde. Es mangele hier an politischem Konsens, Dinge nachhaltig zu verändern, so Sonja Laag von der Barmer.
Der smart.mobile.health-Talk rundete das Programm mit einer spannenden Diskussionsrunde ab. Neben Frau Prof. Martina Hasseler, Konferenzleitung und Projektleitung T-Nugd (Telenursing goes digital), bereicherten Herr Prof. Michael Prilla (TU Clausthal und Projektleitung Pflegebrille), Melanie Philip (Geschäftsführerin Pflegepioniere) und Florian Tölle (Leitung Pflege und Organisation, Diakovere) die Expert*innenrunde. Als Beraterin weiß Melanie Philip, dass es für das Thema Digitalisierung in vielen kleinen und mittelständischen Pflegeeinrichtungen keine Ressourcen gibt. Häufig ist E-Learning die Eintrittskarte in diesen Themenbereich. Prof. Michael Prilla beschäftigt sich in seinem Forschungsprojekt „Pflegebrille 2.0“ mit dem unterstützenden Einsatz von Augmented Reality in der Pflege und betont die Wichtigkeit der Integration der Zielgruppe: „Bevor wir angefangen haben irgendetwas zu entwickeln, sind wir in die Pflegeversorgung gegangen und haben gefragt, was dort benötigt wird.“  Hasseler, selber ausgebildete Pflegefachperson betont die Relevanz eines professionellen Pflegeverständnisses. Auf die Frage, welche positive Pflegenachricht in einem Jahr an selber Stelle präsentiert werden könnte, gab es von den Teilnehmer*innen folgende Antworten:

  • Wir werden zeigen können, dass die Pflegebrille auch ohne abgeschlossene Kosten-Nutzenrechung in die Praxis eingeführt ist (Prof. Michael Prilla)
  • Die Krankenkassen haben  Abrechnungswege gefunden, um Televersorgung zu finanzieren (Melanie Philip)
  • Die Vereinheitlichungen über eine Digitalisierungsstrategie auf Landesebene ist gestartet (Florian Tölle)
  • Dass das T-Nugd Projekt erfolgreich weiter geführt wird und dass die Digitalisierung der Pflege mit den entsprechenden Fachwissenschaften weiterentwickelt und umgesetzt wird und die Pflegepraktiker*innen integriert werden (Prof. Martina Hasseler)

Geschäftsführer der Metropolregion und Moderator des HealthTalks, Kai Florysiak, resümiert die impulsreiche Talkrunde: „Pflege ist hochgradig anspruchsvoll und professionell. Wir brauchen mehr Technikkompetenz in der Aus- und Weiterbildung und mehr Pflegekompetenz in der Technik. Pflegeinformatik als Studiengang gehört ebenso dazu, wie die Ausbildung der Ausbildenden in der Metropolregion.
gesundheIT: Frau Prof. Hasseler, was bedeutet professionelle Pflege und welche Qualifizierungen werden benötigt?
Prof. Martina Hasseler: Professionelle Pflege und professionelle Pflegeberufe sind in Deutschland in ihrer Relevanz und Bedeutung am meisten unterschätzt. Professionelle Pflege hat einen Mehrwert für Patientinnen und Patienten und Pflegebedürftige. Sie resultiert in besseren Ergebnissen der gesundheitlichen Versorgung: bspw. in geringeren Komplikationsraten wie Lungen- oder Harnwegsentzündungen, Krankenhausinfektionen oder Herz- und Kreislaufstillständen, bessere Wundheilungen und schnelleren Entlassungen aus dem Krankenhaus sowie geringeren Sterblichkeitsraten. Diese Ergebnisse sind in internationalen Studien zu erkennen. Der Hintergrund ist, dass professionelle Pflege systematisch auf wissenschaftlichen Erkenntnissen fundiert und sich dieses Wissen in der Praxis auf Einzelfälle bezieht. Professionelle Pflegefachpersonen reflektieren die Praxissituationen und das entsprechende Wissen und richten ihr Handeln flexibel nach den Bedarfen und fachlich-wissenschaftlichen Grundlagen aus. Dabei ist zu beachten, dass nicht nur die formale Qualifikation notwendig ist, sondern auch die Arbeitsumgebungen und Rahmenbedingungen. Dazu gehören bspw. angemessene Pflegepersonalschlüssel, die weit besser sein müssen als sie in deutschen Krankenhäusern und in Pflegeheimen ermöglicht werden. Viele Studien weisen auch daraufhin, dass mehr Helferinnen und Helfer in der Pflege die Qualität und die Outcomes der Pflege nicht verbessern. Als Voraussetzungen benötigen wir also zunächst sehr gut qualifizierte Pflegefachpersonen. In fast allen Ländern der Welt, aber ganz sicher in Europa und um Deutschland herum, werden Pflegefachpersonen auf Bachelorniveau (primärqualifizierend) und weiterführend auf Masterniveau (für Spezialisierungen) qualifiziert. Insbesondere in den primärqualifizierenden Pflegestudiengängen werden die Studierenden auf die patientennahe Versorgung vorbereitet. Die Pflegeberufe haben dadurch in vielen europäischen Ländern nicht nur an Attraktivität gewonnen, sondern sie tragen auch zu besseren Outcomes bei und sind sehr viel besser in die Gesundheitsversorgung als hier integriert. Der professionelle Status ist eindeutig höher. Damit alle Kolleginnen und Kollegen die Möglichkeiten erhalten, diese Abschlüsse zu erreichen, haben vor 20 bis 25 Jahren in den meisten europäischen Ländern die politisch Verantwortlichen allen in der Pflege tätigen Pflegefachpersonen die Voraussetzung auferlegt, berufsbegleitend den Bachelor-Abschluss nachzuholen. Damit waren alle Pflegefachpersonen auf ein Qualifikationsniveau gestellt und etwaige befürchtete Nachteile waren ausgeräumt. Als weitere Entwicklungen sind gute Skills-Grade-Mix-Konzepte bedeutsam, die festlegen, wie und in welcher Weise Helfer*innen und Assistenten*innen in die pflegerische Verantwortung in ihren Kompetenzleveln unter der Supervision der Pflegefachperson eingesetzt werden können. Damit eine qualitativ hochwertige Versorgung erreicht werden kann, werden in den meisten europäischen Ländern die Qualifikations- und Komptenzniveaus der in der Pflege tätigen Berufstätigen festgelegt, sodass die Verantwortlichkeiten sich daraus ergeben und Kompetenzdiffusionen nicht mehr möglich sind. Darüber hinaus werden eine gute Qualität und gute Ergebnisse in der Gesundheitsversorgung sichergestellt.
gesundheIT: Frau Philip, aus Beraterinnen-Sicht gesprochen – welche Bedarfe bestehen seitens kleiner- und mittelständischer Pflegeunternehmen in Punkto Strategie, Prozesse und Qualifizierung?
Melanie Philip: Kleine- und mittelständische Pflegeunternehmen haben grundsätzlich die Herausforderung, dass sie kaum Overheadressourcen haben und durch die Finanzierung der Pflege auch nur eingeschränkte Investitionsmöglichkeiten. So fehlt die Möglichkeit, sich ausreichend mit der „Pflege von Morgen“ und der Arbeit am Unternehmen zu beschäftigen. Zeitgleich ist das Wissen über (Experten-)Themen wie z.B. Prozessoptimierung, Changemanagement, Entgeltverhandlung, Bildungsmanagement oder (digitale) Transformation und die Methodenkompetenz im eigenen Unternehmen oft gar nicht ausreichend vorhanden und kann nur zugekauft werden. Es muss im Rahmen der gesetzlichen Finanzierungsmöglichkeiten der Pflege eine Möglichkeit geschaffen werden, Investitionen in diese Themen und damit positive Veränderungen und Weiterentwicklung zu ermöglichen. Diese sind für die Pflegebranche unablässig, sofern wir unsere Versorgungslandschaft zumindest erhalten oder gar verbessern möchten. Erreicht werden kann diese Veränderung beispielsweise durch die Finanzierung von Beratung und Begleitung bei diesen Themen durch Förderung. Nachhaltig(er) geht dies nur durch eine Aufnahme als refinanzierte (Personal-)Kosten in der Entgeltverhandlung, sodass auch kleine und mittlere Pflegeunternehmen diese Personalstellen im eigenen Unternehmen schaffen und dauerhaft besetzen können.
gesundheIT: Herr Prof. Prilla, bitte erläutern Sie die Perspektive der Forschung, die Sie bei der Entwicklung von Technologien für die Pflege einnehmen.
Prof. Michael Prilla: Mir ist es wichtig, dass wir Technologien entwickeln und einführen, die in der Pflege auch akzeptiert werden und wirksam sind. Daher arbeiten wir stets eng mit Praktiker*innen und Expert*innen aus der Pflege. Unsere Aufgabe ist es dann, die Bedarfe aus der Praxis in technisch unterstützte Arbeitsabläufe zu übersetzen, die Technik einzuführen und sie in der Praxis zu beurteilen. Nur im informierten Dialog zwischen Technik und Anwendung kann meiner Meinung nach sinnvolle und nutzbare Technologie für die Pflege entwickelt werden.
gesundheIT: Herr Tölle, wie beurteilen Sie als Pflege- und Organisationsleiter die digitale Transformation in der Klinik? Wie nehmen Sie Ihre Mitarbeitenden mit?
Florian Tölle: In unserem Unternehmen haben wir bereits große Erfolge bei der Implementierung von digitalen Technologien erlebt. Wir verstehen Digitale Transformation als kontinuierlichen Veränderungsprozess, der Veränderungen in Arbeitsprozesse, Organisationskultur und Organisationsstrukturen mit sich bringt. Durch eine enge Begleitung und Einbindung der Mitarbeitenden durch unser KIS-Team, haben wir es geschafft, Veränderungsprozesse so zu gestalten, dass wir ein „digitales“ Fundament haben, auf welches wir bei zukünftigen Digitalisierungsprojekten zurückgreifen können. Zur langfristigen Planung und strategischen Ausrichtung fehlt allerdings eine landesweite oder regionale Strategie zur digitalen Entwicklung im Gesundheitssystem, mit einer strategischen Planung für die Pflege. Diese Strategie  könnte neben Anforderungen an die Pflege in der Klinik, sowie der sektorenübergreifenden Zusammenarbeit (Stichwort Fallakte) auch Finanzierungswege enthalten. Die digitale Transformation stellt unser Unternehmen aber auch vor Herausforderungen. Die Soft- und Hardware muss die Bedürfnisse der Anwender zufriedenstellen, ohne dabei zu komplex zu sein. Des Weiteren müssen wir Unsicherheiten bei den Mitarbeitenden abbauen und die Bereitschaft wecken, alte Gewohnheiten abzulegen und sich auf die „neue Technologie“ einzulassen.
Wir informieren unsere Mitarbeitenden über verschiedene Kommunikationswege, beispielsweise über einen eigenen digitalen Newsletter für die elektronische Patientenakte. Des Weiteren schult und informiert unser KIS-Team direkt vor Ort. Die Mitarbeitenden in der Pflege haben im direkten Kontakt die Möglichkeit, Anmerkungen zum Produkt und Vorschläge für die Umsetzung zu machen. Diese wichtigen Informationen berücksichtigen wir in der weiteren Entwicklung. Diese Wissenszirkulation ist für die Transformation eine der zielführendsten Maßnahmen um die Mitarbeitenden mitzunehmen.

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