Neues Mitglied der Regierungskommission: Prof. Martina Hasseler im Gespräch

Veröffentlicht: 16. Mai 2022

Sie wurde kürzlich von Prof. Karl Lauterbach in die Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung berufen. Seit der letzten Krankenhaus-Strukturreform im Jahr 2002 haben sich viele Themen angestaut. Die Coronapandemie scheint den Blick auf notwendige Strukturen ebenfalls verändert zu haben. Wir durften mit Frau Prof. Martina Hasseler reden.

GesundheIT: Krankenhausversorgung, Facharztversorgung, Landarztquote - müssten wir nicht eigentlich von medizinischer Versorgung sprechen und folglich vernetzter denken?

Hasseler: Unser Problem in Deutschland ist, dass wir Gesundheitsversorgung nur ärztlich und in ICD-Krankheitsdiagnosen denken. Es wird vergessen, dass sogar für das Erstellen von Krankheitsdiagnosen wie auch das Umsetzen einer Therapie mehrere Gesundheitsberufe erforderlich sind. Wir gehen in Deutschland viel zu sehr von einer einzigen Berufsgruppen aus und vergessen dabei, dass eine bedarfsangemessene Gesundheitsversorgung nur interdisziplinär erfolgen kann. Eine Krankheitsdiagnose sagt erst mal wenig darüber aus, dass ein Mensch in gesundheitlicher und pflegerischer Versorgung braucht. Dafür brauchen wir ein Umdenken in Deutschland: es benötigt viele gut ausgebildete Gesundheitsberufe, die nur gemeinsame eine gute Gesundheitsversorgung erreichen können. Es geht also weniger um medizinische Versorgung als mehr um eine interdisziplinäre bedarfsangemessene Gesundheitsversorgung.

GesundheIT: Welche unterschiedlichen Herausforderungen sehen Sie in der Krankenhausversorgung und wie würden Sie priorisieren?

Hasseler: Die Regierungskommission hat letzte Woche ihre Arbeit begonnen. Aber sicherlich werden die Fragen der Finanzierung der Krankenhausleistungen, Abbau oder Nicht-Abbau von Krankenhäusern, regionale Krankenhausversorgung und weitere Themen mehr auf uns zukommen. Da ich die einzige Pflegewissenschaftlerin in der Regierungskommission bin, die auch die Praxis wie auch die Studienlagen aus anderen Ländern zum Mehrwert professioneller Pflege gut kennt, werde ich die Relevanz gut ausgebildeter Pflegeberufe, die in ausreichender Anzahl auch in Kliniken beschäftigt sein müssen, verdeutlichen. Bislang werden gut qualifizierte Pflegeberufe in Deutschland als Luxus betrachtet. Dabei zeigen Studienlagen aus dem internationalen Raum, dass gut qualifizierte Pflegeberufen einen hohen Mehrwert für Patienten*innen wie für Krankenhäuser haben. Ich werde auch verdeutlichen müssen, welcher Schaden der Pflegefachpersonalmangel auf allen Ebenen anrichtet, dass dieser nicht durch Pflegehelfer*innen in Krankenhäusern ausgeglichen werden kann.  Leider hat die Einführung des DRG-Systems zur Finanzierung der Krankenhäuser dazu geführt, dass auch hier vergessen wurde, dass eine gute Krankenhausversorgung nur interdisziplinär erfolgen kann. Des Weiteren werde ich versuchen darzustellen, dass bisher auch die Gesundheitsökonomie viel zu linear und eindimensional über die Finanzierung von Krankenhäusern nachdenkt und die Relevanz anderer Berufe nicht integriert.

GesundheIT: Was genau ist unter Deprofessionalisierung der Pflegeberufe zu verstehen? Was können wir von unseren europäischen Nachbarn lernen?

Hasseler: Wir müssen erst mal festhalten: die deutsche Pflegeausbildung ist zwei Stufen unter dem formalen Qualifikationsniveau europäischer Pflegequalifikationsabschlüsse. Während wir es in Deutschland mit dem Pflegeberufegesetz nicht geschafft haben, die deutsche Pflegeausbildung mit der europäischen Pflegeausbildung wirklich gleichzusetzen, entwickeln sich in Europa die Pflegeausbildungen weiter fort. In allen Ländern der EU studieren Pflegeberufe und erlangen mit dem Bachelorabschluss ihre Berechtigung als registrierte Pflegefachperson arbeiten zu dürfen. Deutschland ist in der EU dafür bekannt, noch eine veraltete Pflegeberufeausbildung an Pflegeschulen durchzuführen. Die Deprofessionalisierung der Pflegeberufe ist eine starke Entfachlichung der Pflegeberufe. Sie wird in Deutschland reduziert auf Verrichtungen und erkennt den therapeutischen, präventiven, gesundheitsförderlichen, rehabilitativen Mehrwert der Pflegefachberufe nicht an. Pflegeberufe, die auf akademischen Niveau qualifiziert und in ausreichender Anzahl in den Krankenhäusern arbeiten (Pflepgersonal-Patientenschlüssel) haben das Potenzial, Komplikations- und Sterberaten von Patienten*innen zu reduzieren und Kosten zu sparen. Da wir, wie oben dargestellt, immer noch überwiegen Pflegeausbildungen an Pflegeschulen anbieten, und auch keine Selbstverwaltung der Pflegeberufe und die Finanzierung der Leistungen der Pflegefachberufe nicht in den Sozialgesetzbüchern abgesichert haben, ist die deutsche Pflege bzw. sind die deutschen Pflegeberufe in den letzten 20 bis 30 Jahren deprofessionalisiert worden. Gerade bezogen auf die formalen Qualifikationsniveaus können wir in Deutschland nicht mehr mit der EU und der Welt mithalten. Aber weil es auch kein Leistungsrecht gibt, dass die Fachpflege finanziert, hat professionelle Pflege auch keinen Platz in unserem Gesundheitssystem.

GesundheIT: Kürzlich wurde eine Digitalisierungsstrategie für das deutsche Gesundheitswesen angekündigt. Neu sind solche Vorhaben nicht.  Wo sehen Sie das Potential für digitale Lösungen in der pflegerischen Versorgung im Krankenhaus und welche Hürden sind abzuräumen?

Hasseler: Das Problem ist, da unsere Entscheidungsträger in unserem System zumeist von einem sehr simplen Verständnis pflegerischer Versorgung ausgehen, dass die Pflegewissenschaft und die Pflegefachlichkeit in der Entwicklung der Digitalisierung im Gesundheitswesen in ihren professionellen Prozessen und Leistungen nicht mitgedacht werden. Wie in den Antworten zu Frage 1 bereits ausgeführt, gehen wir Deutschland irrtümlicherweise davon aus, dass eine medizinische Diagnose ausreicht, um eine gute Gesundheitsversorgung zu erreichen. Das tut sie aber nicht. Eine medizinische Diagnose kann allenfalls ein Anfang sein, wenn alle Gesundheitsberufe integriert werden, um dann zu eruieren, welche Versorgungsbedarfe daraus resultieren. Darüber hinaus gibt es aber auch Pflegediagnosen, die in Deutschland gar nicht etabliert sind oder eben die Einschätzung aller anderen Gesundheitsberufe, die für eine gute Gesundheitsversorgung von Bedeutung sind. Für die Pflegefachlichkeit und Pflegeberufe wird eine Digitalisierung nur dann sinnvoll sein, wenn diese den Pflegeprozess in den unterschiedlichen Settings und Sektoren unterstützen. Die Digitalisierung wird in vielen Bereichen die pflegerische Versorgung und den Pflegeprozess verändern. Sie wird aber nicht dafür sorgen, dass wir in Zukunft keine Pflegeberufe mehr benötigen. Wir werden in Zukunft besser ausgebildete Pflegeberufe benötigen, die auch im Bereich der IT und der Digitalisierung qualifiziert sind. Wenn der Pflegeprozess und die Anteile der pflegefachlichen Versorgung in der Digitalisierung von Krankenhäuern nicht mitgedacht werden, sondern immer nur von einer Berufsgruppe aus gedacht wird, besteht die Gefahr, dass eine bedarfsangemessene Digitalisierung für eine gute Patient*innenversorgung nicht erfolgen kann. Die Digitalisierung in den Krankenhäusern wird also nicht den Pflegepersonalmangel beheben, sondern nur die die Bedarfe an gut ausgebildeten Pflegefachpersonen verändern und die Digitalisierung in den Krankenhäusern kann nur gut gelingen, wenn die interdisziplinären Prozesse der Gesundheitsversorgung mitgedacht und zwingend integriert werden. Die Digitalisierung in den Krankenhäusern ist komplexer als manche vermutlich annehmen, wenn sie den  zukunfts- und patienten*innenorientiert entwickelt werden soll.

GesundheIT: Vielen Dank Frau Prof. Hasseler und viel Erfolg bei dieser so wichtigen Aufgabe.

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