Mit unserem Netzwerk Revitalisierung Innenstadt widmen wir uns seit November 2023 Maßnahmen und Best-Practice-Beispielen, wie Stadtzentren ihre Attraktivität als Kund*innenmagneten bewahren bzw. zurückgewinnen können. Dazu haben wir uns mit Hendrik Müller von der Hochschule Fresenius ausgetauscht. Er ist Professor für Wirtschaftsethik und Unternehmenskommunikation und hat beim vergangenen Treffen unseres interkommunalen Netzwerkes darüber referiert, wie analoge Kommunikationsformen ein Gegengewicht zur digitalen Transformation des Einzelhandels setzen können.
Redaktion: Eine etwas provokante Frage zum Einstieg: Sind die deutschen Innenstädte dem Tode geweiht?
Prof. Dr. Hendrik Müller: Nein, so drastisch würde ich die Lage nicht sehen. Laut Handelsbranchenverband HDE schließen zwar im Schnitt etwa 6600 Läden pro Jahr in den Innenstädten. Umso wichtiger ist es, dass Städte und Kommunen jetzt innovative und zukunftsweisende Antworten auf die derzeitige Lage – Strukturwandel, Leerstand, hohe Mietpreise, etc. – finden. Wenn überzeugende Konzepte entwickelt und umgesetzt werden, haben die Innenstädte sicherlich wieder eine Zukunft. Und einzelne Einkaufsstraßen wie die Kaufinger Straße in München, der Jungfernstieg in Hamburg, aber auch die Georgstraße in Hannover konnten im vergangenen Jahr sogar wieder einen Zuwachs an Besuchern verzeichnen.
Redaktion: Wann waren Sie das letzte Mal selbst begeistert von einem Stadtbummel? Was hat Sie dort überrascht?
Prof. Dr. Hendrik Müller: Ich bin immer wieder überrascht, wie gut europäische Metropolen wie Wien oder auch Kopenhagen den Spagat zwischen dem breiten Angebot der unvermeidlichen Handelsketten mit ihren Filialen und kleinen inhabergeführten Geschäften hinbekommen. Die Strøget in Kopenhagen beispielsweise bietet in jeweiligen Abschnitten beides. Aber auch beim Bummel durch meine Heimatstadt Hannover überraschen mich immer noch die zahlreichen inhabergeführten Geschäfte, obwohl eines davon, das Mäntelhaus Kaiser, gerade verkauft wurde, aber hoffentlich seinen Namen und seinen Charakter behalten wird.
Redaktion: Können wir uns den klassischen Bekleidungsladen ohne Konzept-Store-Charakter überhaupt noch leisten?
Prof. Dr. Hendrik Müller: Jein. Kleidung wird inzwischen in verstärkten Maßen online bestellt. Das liegt zum einen daran, dass der Online-Handel attraktive Preise anbieten kann, zum anderen aber auch ein viel größeres Angebot an Modellen und Größen bereithält. Bekleidungsläden müssen daher alternative Mehrwerte bieten und entsprechende Konzepte zur Kundenbindung entwickeln. Auch das Plus der persönlichen Beratung muss noch stärker ausgebaut werden.
Redaktion: Sie schlagen vor, stationäre Läden als Event- und Erlebnisräume umzufunktionieren. Wie stellen Sie sich das in der Praxis vor, wenn beispielsweise Kleidung verkauft wird? Modenschauen?
Prof. Dr. Hendrik Müller: Modenschauen sind nur eine punktuelle Möglichkeit, aber es geht mir vielmehr um Konzepte, die nicht monokausal beim Thema Bekleidung stehen bleiben. Bekleidungsläden können Anregungen oder direkte Kooperationen in andere Richtungen geben, beispielsweise zu den Themen Einrichtung oder Kunst. Und auch kulinarische Angebote als Teil des Konzeptes wie bei Arket sollten stärker ausgebaut werden.
Redaktion: Erlebnisräume schön und gut – aber am Ende zählt doch der Preis. Können Innenstädte überhaupt mit der Rabattschlacht der Online-Plattformen mithalten? Sind kleine Händler bei Erlebnis-Konzepten nicht chancenlos gegenüber großen Ketten?
Prof. Dr. Hendrik Müller: Nein, wie ich bereits ausgeführt habe, werden die Innenstädte diesen Kampf nicht aufnehmen können und sollten es gar nicht erst versuchen. Vielmehr sollten sie darauf setzen, den Einkauf zu einem Erlebnis zu machen, auch wenn dies seinen Preis hat. Doch persönliche Beratung und die daraus resultierende Zufriedenheit des Kunden sind ebenso wie Zusatzangebote und Events vor Ort bereichernde Aspekte, die der Online-Handel nicht bieten kann. Auch kleinere Läden können hier kreativ sein, beispielsweise durch die Gestaltung von Themenabenden oder Workshops rund um die angebotenen Produkte.
Die angesprochenen Handelsketten haben an dieser Stelle sicherlich einen gewissen Vorteil gegenüber kleineren Händlern, für die solche Zusatzangebote nicht zuletzt auch eine weitere finanzielle und organisatorische Belastung darstellen. Ich denke daher, dass an dieser Stelle auch die politischen Rahmenbedingungen anders gesetzt werden müssen: Trotz der schwierigen Haushaltslage vieler Städte und Kommunen stellt die gezielte Förderung von innovativen Ladenkonzepten eine lohnende Investition dar. Dauerhaft können nur auf diese Weise auch steuerliche Einkünfte aus dem Einzelhandel gesichert werden– die Alternative ist ein weiteres Ladensterben und eine Verödung der Innenstädte.
Redaktion: Aber ein tolles Ambiente allein verkauft noch keine Produkte…
Prof. Dr. Hendrik Müller: Nein, keineswegs. Gleichwohl sind wir eher bereit, in einem angenehmen und ansprechenden Ambiente Geld auszugeben. Das hat sich auch im Lebensmitteleinzelhandel gezeigt, wo selbst die Discounter inzwischen viel mehr Wert auf die Innengestaltung ihrer Geschäfte legen. Oder denken Sie an die Store-in-Store-Ansätze in großen Kaufhäusern, die ebenfalls belegen, dass der Kunde auf das sog. Visual Merchandising, also die gelungene Gestaltung von Schaufenstern, Ladengestaltung und des Warenangebots achtet.
Redaktion: Braucht es mehr Guerillamarketing? Mehr Social Media?
Prof. Dr. Hendrik Müller: Ansätze des Guerillamarketings erlauben gerade im öffentlichen Raum, die Aufmerksamkeit auf bestimmte Angebote zu lenken, hier sind entsprechende Konzepte inklusive der Öffnung von Pop-up-Stores o.ä. sicherlich eine hervorragende Möglichkeit, Aufmerksamkeit zu generieren. Auch Social-Media-Angebote, die sich an eine junge Zielgruppe richten, sind ebenfalls eine Chance, mit wenig Aufwand und in Kooperation mit zielgruppenstarken Influencern für die Attraktivität der Innenstädte zu werben. Doch es geht am Ende um ein analoges Erlebnis, und das muss über Social Media auch vermittelt werden. Wie jüngste Untersuchungen zeigen, zieht es auch die Digital Natives zwischen 26 und 40 Jahren inzwischen wieder mehr in die Innenstädte; weniger gut sieht es bei den Jüngeren unter 26 Jahren aus.
Redaktion: Was funktioniert nur für Großstädte und was auch bei kleineren und mittleren Städten?
Prof. Dr. Hendrik Müller: Es gibt in Norddeutschland eine Reihe von kleineren und mittleren Städten, die das von mir geforderte Konzept des Angebotmixes bereits sehr erfolgreich hinbekommen, ich denke da an Lüneburg oder auch Lübeck, speziell die Hüxstraße. Diese bietet auf gerade einmal 517 Metern Länge 121 Läden und zahlreiche Bars und Restaurants. In den Großstädten wird es darauf ankommen, die Innenstädte wieder durch mehr Wohnraum, mehr Grünflächen und mehr Kulinarik zu beleben. Eine aktuelle Studie zeigt, dass neben dem Einkaufen, das für 60 Prozent Anlass des Stadtbesuches ist, das gastronomische Angebot immer größere Bedeutung einnimmt; das äußern 40 Prozent der Befragten, was einen deutlichen Anstieg bedeutet. Auch die Erreichbarkeit der Innenstädte mit öffentlichen Verkehrsmitteln spielt eine wachsende Rolle.
Redaktion: Haben Sie ein konkretes Beispiel einer Stadt, die Sie als Vorbild sehen? Was genau macht sie besser? Haben Sie auch ein Beispiel aus Deutschland?
Prof. Dr. Hendrik Müller: Neben den großen und beliebten Shopping-Metropolen wie New York, London oder Rom ist Amsterdam ein gelungenes Beispiel, wie eine Innenstadt auf kleiner Fläche belebt werden kann. Neben Bekleidungsläden erwarten die Besucher hier auch Schmuckgeschäfte oder Antiquariate. Und an jeder Ecke finden sich Cafés oder Bars, in denen man während des Einkaufsbummels einkehren kann.
Ein erfolgreiches Beispiel aus Deutschland ist sicherlich Leipzig. Seit 1990 hat man hier zahlreiche Bau- und Gestaltungsmaßnahmen durchgeführt, um die Stadt nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg und der Umgestaltung des historischen Stadtbildes im Rahmen des sozialistischen Wiederaufbauprogramms durch die Führung der DDR wieder attraktiv zu gestalten. Einzigartig ist dabei das System von Durchgängen, Passagen und Lichthöfen, das die Innenstadt durchzieht, und auch kleineren Händlern Möglichkeiten des Warenangebots bietet. Zukünftig soll der Promenadenring, der aktuell die Innenstadt von der umliegenden Stadt trennt, und damit die erweiterte Innenstadt in den Fokus rücken. Denn historisch betrachtet ist der Ring der älteste kommunale Landschaftspark Deutschlands und damit städtebaulich weniger ein trennendes als ein verbindendes Element.
Redaktion: Drei Argumente für die Innenstadt/ drei Gründe, die gegen den Onlinehandel sprechen
Prof. Dr. Hendrik Müller:
Redaktion: Angesichts der gestiegenen Preise, der schwächelnden Konjunktur und der aktuellen Lage der Weltwirtschaft achten viele Menschen noch bewusster darauf zu sparen. Ein weiteres K.O.-Kriterium für die Innenstädte?
Prof. Dr. Hendrik Müller: Krisenzeiten sind immer schlecht für den Handel, da viele Menschen an bestimmten Konsumgütern sparen. Sicherlich hat auch die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Ausgangssperren unser Verhalten nachhaltig beeinflusst und den Online-Handel über die Maßen gepusht. Doch interessanterweise sparen Menschen in Deutschland bekanntermaßen nicht beim Thema Reisen. Die Bekleidungsbranche ist zudem seit Jahren auch stark von einem größeren Kulturwandel betroffen: Selbst im beruflichen Kontext sehen wir inzwischen mehr Sneaker statt hochwertiger Lederschuhe und Casual Look statt Anzug und Krawatte oder Kostüm. Dieser Wandel schlägt sich auch im stationären Warenangebot nieder, denken Sie an die Schwierigkeiten, die beispielsweise Görtz in Hamburg hat und u.a. seine Filiale an der Mönckebergstraße schließen muss.
Redaktion: Beim Onlinehandel lässt sich rund um die Uhr einkaufen. Im stationären Handel nicht. Inwiefern sehen Sie dahingehend Potenzial für die Innenstädte?
Prof. Dr. Hendrik Müller: Deutschland tut sich bekanntermaßen schwer mit der Flexibilisierung der Öffnungszeiten. Hier ist sicherlich Luft nach oben. Die mehrmals im Jahr angebotenen, verkaufsoffenen Sonntage in den Großstädten zeigen ja, wie groß die Nachfrage ist. Doch auch über innovative Konzepte wie das in Leipzig erprobte Late Night Shopping o.ä. sollte flächendeckend nachgedacht werden.
Redaktion: Wie können digitale Tools – etwa Augmented Reality oder KI – den stationären Handel unterstützen, ohne dass es nur eine Spielerei bleibt?
Prof. Dr. Hendrik Müller: Solche Ansätze sind seit Jahren im Einsatz, so hat z.B. Bon Prix mit entsprechenden Ansätzen wie virtuellen Spiegeln in den Umkleidekabinen experimentiert, aber aus meiner Sicht konnten sie nicht wirklich überzeugen. In NRW wird im Rahmen des Projektes „KI-Navi Handel“ untersucht, wie von den Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz profitieren können. Doch der stationäre Handel sollte sich nicht allein auf digitale Touchpoints, sondern, wie mehrfach betont, auf seine Stärken der persönlichen Beratung konzentrieren. Zielführend könnte es sein, direkt vor Ort Online-Bestellungen anzubieten, wenn die entsprechende Größe oder Farbe z.B. nicht im Laden verfügbar ist.
Redaktion: Wir schreiben das Jahr 2075: Wie werden die Innenstädte dann aussehen?
Prof. Dr. Hendrik Müller: Es fällt mir angesichts der disruptiven Entwicklung unserer Gesellschaft schwer, einen Blick in eine so weit entfernte Zukunft zu werfen. Aber was sich für die nähere Zukunft abzeichnet: Unsere Innenstädte müssen mehr als ein Einkaufserlebnis bieten und vielmehr zu Erlebnisräumen werden. Neben Freizeitangeboten, Veranstaltungen sollten wir als Gesellschaft daran mitwirken, diesen analogen Raum unseres Lebens zu erhalten. Auch wenn uns im Jahr 2075 ein humanoider Roboter begleitet, um unsere Einkaufstaschen zu tragen.
Redaktion: Was wünschen Sie sich persönlich für die Zukunft unserer Innenstädte?
Prof. Dr. Hendrik Müller: Ich wünsche den politisch Verantwortlichen mehr Mut zur Veränderung, bei gleichzeitiger Rückbesinnung auf die Stärken unserer Innenstädte als Orte der Begegnung und zwischenmenschlichen Kommunikation. Gleichzeitig hoffe ich, dass die Vermieter der Immobilien ihre Renditeabsichten nicht über alles andere setzen und an innovativen Lösungen mitwirken. Drittens wünsche ich mir eine Diversifizierung des Angebotes, weniger austauschbare Ketten, und auch wenn die letzten Jahre eine andere Sprache sprechen, hoffe ich stark auf ein Überleben bzw. eine kreative Neu-Ausrichtung des Kaufhaus-Konzeptes. Zum einen haben solche Häuser mit einem gemischten Warenangebot eine sehr lange und prägende Tradition für unsere Innenstädte seit dem Mittelalter. Und zum anderen zeigen die seit Jahren bekannten Pläne für stationäre Geschäfte von amazon, die im Laufe des Jahres mit der Eröffnung eines sog. Supercenters verwirklicht werden sollen, dass Online-Handel eben nicht alles ersetzen kann.
Redaktion: Vielen herzlichen Dank für das Interview!