Pflege als systemisch integrierter Beruf, ein professionelles Pflegeverständnis, Insellösungen, die Freiheit mit digitalen Tools zu experimentieren, Selbstbestimmtheit und ein Wir-Gefühl - sechs Pflegeexpert*innen diskutierten im HealthTalk „Digitale Tools in der Pflege“ den Status Quo sowie Entwicklungen in der Pflege und formulierten konkrete Forderungen an Branche, Vertreter*innen und Politik. Der Blick ging dabei von der metropolregionalen auf die nationale und internationale Ebene.
Metropolregion, 16.11.2021. Im Mittelpunkt des HealthTalk „Digitale Tools in der Pflege“ im Rahmen der zweiten gemeinsamen Online-Konferenz der Metropolregion GmbH und Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften stand die Diskussion über die Professionalisierung des Berufsbilds Pflege, die Frage nach dem Einsatz und der Sinnhaftigkeit von technischen Tools im Pflegealltag und ein vier Punkte-Plan des Pflegerats auf Bundesebene. Prof. Dr. Elisabeth Haslinger-Baumann, Prof. Dr. Martina Hasseler, Michael Lüdicke, Dr. Ariane Schenk, Bettina Tews-Harms und Christine Vogler nahmen an der moderierten Gesprächsrunde teil.
Grundlegend in der Diskussion um Digitalisierung in der Pflege sei zunächst die Definition des Berufszweiges: „Wir vermissen in Deutschland ein komplexes, integriertes Pflegeverständnis, wie es beispielsweise in England oder Schottland definiert ist“, erklärt Prof. Martina Hasseler, Professorin für klinische Pflege an der Fakultät Gesundheit der Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften. „Wir verstehen digitale Tools gerne als Entlastung in der Pflege, ohne dass überhaupt klar ist, was die professionelle Pflege macht, nämlich die Planung, Durchführung, Evaluation der Gesundheitsversorgung, -förderung und -prävention durch qualifizierte Fachpersonen nach dem Pflegeberufegesetz.“ Eine immer kürzere Verweildauer sowie der Fachkräftemangel zeigen den großen Unterstützungsbedarf durch digitale Tools im Pflegealltag auf, so Michael Lüdicke, Pflegedienstleitung im Klinikum Braunschweig. Dort werden Mitarbeitende von Anfang an in den Einführungsprozess eingebunden, dabei im Fokus: Ausprobieren. „Natürlich stoßen wir manchmal auf Widerstände. Mir ist wichtig zu vermitteln, dass wir in der Pflege ausprobieren dürfen und gemeinsam weiterentwickeln. Dabei entstehen häufig Innovationen, die auch den entwickelnden Unternehmen in der Optimierung helfen“, erklärt Lüdicke weiter. Zentral in der Arbeit mit digitalen Tools: ein zielgruppenspezifischer Mehrwert. Gerade stationäre und ambulante Pflege sind hier auf unterschiedliche Angebote der digitalen Unterstützung angewiesen, berichtet Bettina Tews-Harms, Geschäftsführerin der Bettina Harms GmbH. „Auch in der Pflege ist New Work ein Stichwort – wir erfassen Patientendaten und planen die Versorgung von zuhause aus – dafür benötigen wir eine vernünftige Netzabdeckung. Zu häufig machen wir die Erfahrung, dass technische Voraussetzungen noch nicht zufriedenstellend umgesetzt sind. Die Angebote für den Kommunikationsaustausch müssen auf unsere ambulanten Bedarfe angepasst sein, das wird häufig nicht verstanden.“
Ein generelles Problem: Insellösungen. „Mit und ohne Digitalisierung haben wir das Problem, dass die Sektoren nicht miteinander sprechen. Die Pflege muss sich hier als Teil der gesamten Versorgungskette sehen“, erklärt Dr. Ariane Schenk, Bereichsleiterin von Health & Pharma bei Bitkom. Der Blick nach Österreich zeigt die Pflegewissenschaft als Bindeglied zwischen Technik und Pflegekräften: „Wir stellen andere Fragen und nutzen andere Methoden. Unsere Proband*innen können für den Test von neuen Tools extra Stunden abrechnen. Wir versuchen ein Wir-Gefühl zwischen Pflegepraxis und Pflegewissenschaft zu kreieren und so der Profession Pflege den Stellenwert in Digitalisierungsprojekten zu geben, den es benötigt um sinnvolle Lösungen entwickeln zu können“, so Prof. Elisabeth Haslinger-Baumann, Leiterin des Kompetenzzentrums für angewandte Pflegeforschung am FH Campus Wien.
Die Präsidentin des deutschen Pflegerats, Christine Vogler, setzt sich mit ihrem Bündnis auf Bundesebene ein und fordert ein Kompetenzzentrum Digitale Pflege zur Bündelung von Praxis, Wissenschaft und Politik, einen Umsetzungsplan, digitale Teilhabe für alle und eine sichere Refinanzierung. „Es gibt sehr viele Gelder im Bereich der Digitalisierung. Die Pflege wird da nicht berücksichtigt und dagegen müssen wir angehen“, so Vogler. „Wir werden weiter um Selbstverwaltungsstrukturen in Deutschland kämpfen, weil wir unserer Versorgungsleistung sonst in 10 Jahren weder qualitativ noch quantitativ nachkommen werden können. Mit dem neuen Pflegeberufegesetz und vielen Digitalisierungsprojekten wird Veränderung angestoßen“, so Vogler weiter. Dazu Hasseler: „Wir können nicht darauf warten, dass die Pflege Teil des Systems wird. Wir müssen jetzt gemeinsam in die Entwicklung gehen und können nicht auf die Politik warten.“ Kai Florysiak resümiert die Gesprächsrunde: „Es reicht nicht, Neuerungen in der Pflege nur auszuprobieren. Pflege muss an den Anfang von Entwicklungen kommen. An unseren Versorgungseinrichtungen können Innovationslabore entstehen, um neue Produkte und Dienstleistungen aus dem Markt heraus zu forcieren und wirklich gemeinsam zu entwickeln.“